Ulli Seegers, Verflüchtigungen und Verfestigungen des Seins

Was ist eine Skulptur? Vor dreißig Jahren antwortete Terry Fox auf diese Frage: „Ich kann sie zur Zeit nicht definieren, weil ich die Grenzen noch nicht kenne.“1 Wenngleich der damals 28-Jährige, der neben Vito Acconci und Dennis Oppenheim zu den Hauptvertretern der Body und Performance Art gezählt wird, den Begriffsinhalt von „Skulptur“ so weit entgrenzt hat, dass er zunächst nicht mehr genau zu sagen weiß, an welchem Punkt „Skulptur“ aufhört, bezeichnet seine Arbeit „Dust Exchange“ (1967) eindeutig als „die erste Skulptur, die ich jemals machte“2. Fox hatte auf verschiedenen Reisen durch Europa Staub von ausgewählten Gegenständen an besonderen Orten aufgelesen und an jeweils anderen Orten in völlig neuen Kontexten platziert. Nach einer von vielen Staub-Tausch-Aktionen fand sich auf diese Weise beispielsweise der Staub eines ägyptischen Grabmals im Louvre nunmehr im Regal der American Express Taschenbuch-Bibliothek und vice versa – Staub als „skulpturales Element“, das keinem Passanten als ein solches unmittelbar identifizierbar wäre und damit den herkömmlichen Begriff von „Skulptur“ nachhaltig untergräbt.

Als „stärkste Skulptur“ erscheint dem Künstler zum damaligen Zeitpunkt seine erste Einzelausstellung, „Levitation“ (1970), die dem Zuschauer in Form einer Raum-Installation im Anschluss an eine nicht-öffentliche Performance zugänglich war. Zu sehen waren im Richmond Art Center ein komplett mit weißem Papier ausgeschlagener Ausstellungsraum sowie eineinhalb Tonnen Erde, ausgebreitet auf 3,5 x 3,5m Bodenfläche. Von der in diesem Ambiente kurz zuvor vollzogenen Handlung des Künstlers war nur noch durch einen schriftlichen Hinweis des Kurators zu erfahren. „Mit meinem Blut zog ich in der Mitte der Erde einen Kreis. Der Durchmesser entsprach meiner Körperlänge. Nach mittelalterlicher Vorstellung wird auf diese Weise ein magischer Kreis erzeugt. Dann legte ich mich auf den Rücken in die Mitte des Kreises und hielt vier durchsichtige Plastikschläuche fest, die mit Blut, Urin, Milch und Wasser gefüllt waren. Sie repräsentierten die elementaren Flüssigkeiten, die ich aus meinem Körper austrieb. Ich lag sechs Stunden lang da mit den Schläuchen in meiner Hand und versuchte zu schweben.“3 Terry Fox ist überzeugt, dass sich sein Levitationserlebnis, das sich nach etwa 4 Stunden einstellte („Ich glaubte, anderswo zu sein. Ich war weg, hatte meinen Körper hinter mir gelassen.“), auf die Betrachter des beinahe leeren Raumes gefühlsmäßig übertrug, obwohl diese die Performance gar nicht gesehen hatten. Der Ort und die Relikte der Performance gerieten auf diese Weise zu einer „Skulptur, weil der ganze Raum energiegeladen war.“4

In der Performance „Pushing into a Corner“ (1970) in der Reese Palley Gallery, San Francisco, wird der eigene Körper zum konstitutiven Bestandteil der Rezeption. Fox drückte sich eine Zeitlang so fest wie möglich in die Ecke zwischen zwei Wänden und verlor darüber bald die Balance. Durch die körperliche Erfahrung vermittelte sich ihm zuständlich eine konkrete Idee vom „unheimlichen physikalischen Druck“, dem die Ecken eines Raumes ausgesetzt sind, und von „Dialogen, die auf psychische und physische Weise stattfinden.“5 Der Körper und seine sinnlich-unmittelbaren Zustandserfahrungen erscheinen somit ebenfalls „skulptural“.

Das Flüchtige, Unsichtbare, der Raum, Körper, die sinnliche Erfahrung – was also ist eine Skulptur? Auch heute, im Jahr, in dem Terry Fox seinen 60. Geburtstag feiert, hält der Künstler an seinem früheren Statement fest: „Nein, ich weiß es immer noch nicht!“6 Hat sich in den vergangenen drei Dekaden tatsächlich nichts verändert?

Im Mai 1968 reist Terry Fox von der amerikanischen Westcoast nach Paris – ein Datum mit programmatischer Symbolik. Die revolutionär brodelnde Hauptstadt wird zum Umfeld seiner Abkehr von der Malerei und der Hinwendung zur prozessorientierten Kunst, die sich zunächst in Straßenaktionen manifestiert. „Ich machte Skulpturen, indem ich Hydranten öffnete. Ich mochte es, dem Wasser zuzuschauen, wie es die Straßen hinunterlief, ich mochte es, immer wieder den Hahn aufzudrehen und wegzulaufen. Auch das Werfen von Pflastersteinen und die Polizei, alles war Skulptur für mich. Dort fing es an und ich fand, dass Skulptur etwas für ein Publikum sein sollte. Für mich ist eine Performance eine Form von Skulptur, die vor einem Publikum stattfindet.“7 Tatsächlich fand sich der Künstler täglich nolens volens involviert in Durchsuchungen, Verhöre und Verdächtigungen, so dass seine Kunst geradezu zwangsläufig eine politische Färbung erhält. Anstelle von materiell dauerhaften Gemälden, präsentiert für eine exklusive, kleine Kennerschaft im begrenzten Kontext des Museums oder der Galerie, erkannte Fox in der Dynamik der Streiks und im Aufruhr der Straße sein eigentliches „Arbeitsfeld“. „Die gesamte Gegenständlichkeit, Materialität, Ereignishaftigkeit der Welt wird als energetisches und skulpturales Potential entdeckt“, formuliert Eva Schmidt treffend8. Das mentale Klima der Studentenunruhen wird gleichzeitig zum Katalysator wie zur Folie eines neuen aktionistischen Werkbegriffes („riots changed everything“9). Terry Fox hört an der Sorbonne Sartre und Genet, liest und lebt die „Beat Generation“ und entdeckt Antonin Artaud für das eigene Schaffen.

Magie des Stofflichen

In den Schriften Artauds, vor allem im „Theater der Grausamkeit“, findet der Künstler grundlegende Ideen seines Verständnisses von den Möglichkeiten von Kunst vorformuliert. Kunst, die sich von der Repräsentation und Rezeption ausschließlich elitärer Gruppen losgesagt hatte, sollte wie bei jenem für jedermann zugänglich sein und aufgrund ihrer direkten, physischen Wirkung als Realität erfahrbar sein. Handlungen, Vollzüge und Bewegungen im Rahmen von Body und Performance Art erscheinen in ihrer Körperlichkeit und universellen Sprachlichkeit als adäquate Mittel, die existentiellen Energien, Vibrationen und Erregtheiten, auf die bereits Artaud zielte, bei einem breiten Publikum wachzurufen.

Buchstäblich unter die Haut ging die Performance „Pisces“ (1971). Terry Fox lag im weißen Anzug auf dem Boden – durch eine Schnur an Zunge und Penis verbunden mit zwei lebendigen Fischen, die wenige Meter entfernt und ebenfalls am Boden liegend um ihr Leben rangen. Durch die Verschnürung übertrugen sich die Vibrationen der zappelnden Fische auf den Künstler, der dergestalt den Todeskampf der Tiere am eigenen Leibe erspürte. Der Performance vorausgegangen war eine mehrtägige rigorose Askese, die neben Fasten auch Schlafentzug einschloss und die die Wahrnehmungsfähigkeit auf ein Maximum sensibilisierte. Schöpferische Produktion und Zerstörung, Werden und Vergehen, das Individuelle und das Allgemeine – in den Arbeiten werden die Grenzen der Kunst und des Lebens ausgelotet.

Tatsächlich stößt Terry Fox bereits als Jugendlicher auf Grenzen, die ihn erstmals unmittelbar mit dem Tod konfrontieren. Eine schwere Erkrankung, die für die Dauer von 11 Jahren regelmäßige stationäre Aufenthalte in Intensiv- und Quarantäne-Stationen erforderlich macht, führt zu existentiellen Grenzerfahrungen. Isoliert von der Welt der Betriebsamkeit und abgeschottet von jedweder Kommunikation und Information, beginnt Fox, physische Determinanten zu überschreiten. Die Langeweile, die sich nach Monaten der Deprivation einstellt, wandelt sich in eine neue Wahrnehmung, für die „plötzlich jeder Riss in der Tapete interessant wird.“10 In einer Umgebung, in der die äußeren Reize auf ein Minimum reduziert sind, verändert sich notwendig auch die Erfahrung und der Begriff von Zeit. Sie erscheint weniger als sukzessive Abfolge von Begebenheiten, als vielmehr als meditatives Kontinuum absoluter Gegenwart. Krankheit und Leiden als kathartischer Wendepunkt: die einstündige Performance „Isolation Unit“ (1970) im Keller der Kunstakademie Düsseldorf findet nicht von ungefähr zusammen mit Joseph Beuys statt.

„Mein Interesse für den Körper ist auch aus konkreten Erfahrungen heraus entstanden. Es wurden so viele Untersuchungen an mir durchgeführt, ich war so oft der Gegenstand einer Handlung, dass ich zum Material wurde. Ich war ein Stück Fleisch, auf das man einwirkte.“11 Das passivische Erleiden von Eingriffen hat sich gewandelt in ein aktives Eingreifen in äußere Abläufe. Damit verbunden ist das Wissen um die Erkenntnismäßigkeit sinnlicher Erfahrung. „Ich appelliere an den geistigen Raum durch die Sinne. Es ist ermüdend, schmerzhaft, man wird verwirrt, verliert sich, man muss die Spur Schritt für Schritt verfolgen, immer wieder. Und das ist auch eine physische Erfahrung. Das ist sehr viel anders, als den Text in einem Buch zu lesen.“12 Der Körper wird zum Werkzeug und Medium der Sichtbarmachung elementarer Prozesse. Kunst und Wirklichkeit verschmelzen in der eigenen Existenz. Die Betonung der spürbaren, ja fassbaren Realität von Kunst gipfelt in der Idee des „Public Theater“, das Terry Fox nach seiner Rückkehr von Paris nach San Francisco betreibt. Im Unterschied zur Aufführung eines Stückes auf der Bühne finden die „theatralischen Skulpturen“13 des Künstlers auf der Straße statt. Einmal im Monat lud Fox an verschiedenen Orten der Metropole zum „Öffentlichen Theater“ ein. Die Ankündigungen wurden überall verteilt und plakatiert. Die Straßenaktionen, die die Zuschauer dann zu sehen bekamen, waren so unterschiedlich wie die „Performer“ selbst. Mal ist es Terry Fox, der allein oder mit Freunden mehr oder weniger unvorbereitet Dinge tut, mal ist es eine blinde Frau von der Straßenecke, die auf ihrem Akkordeon spielt oder es ist ein Londoner Wochenmarkt, der kurzerhand zum „öffentlichen Theater“ mit vielen unwissentlich Beteiligten erklärt wird. Das „Theater des Lebens“ wird zum „Versuch einer neuen Kommunikation“14, die auf die Unmittelbarkeit von Handlungsvollzügen setzt.

Es sind die ganz alltäglichen Dinge und natürlichen Prozesse, die Fox mit seiner Kunst im Auge hat. Zumeist sind es gefundene, einfache Materialien, die in seinen Performances, Photographien (o.T., Amsterdam 1968; „Virtual Volumes“, San Francisco 1969) und Videos eine Eigensprachlichkeit entwickeln und den Blick schärfen für die überraschenden Potentiale des Bekannten, für die Magie des Stofflichen. Man hat Terry Fox daher auch als einen Protagonisten der amerikanischen Arte Povera bezeichnet.15

Das Labyrinth und die Macht der Bilder

Das Gefundene, Zufällige und Flüchtige wird in der Videofolge der „Children’s Tapes“ (1974) zum Gegenstand höchster Spannung. Terry Fox hatte im März 1974 insgesamt 34 Video-Sequenzen mit einer Laufzeit von je 1-17min in seinem Atelier aufgenommen. Gedacht waren die Videos als privates TV-Ersatzprogramm für seinen kleinen Sohn. Ob der Qualität der üblichen Kindersendungen in kommerziellen Programmen griff der Vater selbst zur Kamera. Tatsächlich stießen die mit einfachsten Mitteln hergestellten Tapes nicht nur bei dem Fünfjährigen auf großes Interesse, sondern auch bei vielen anderen, so dass die Filmreihe bald in Schulen und Museen gezeigt wurde. Dabei erscheinen die tonlosen s/w-Filme zunächst alles andere als spektakulär, wenn sie funktionale, alltägliche Dinge wie Löffel, Gabel, Schüssel, Wasser, Kerze, Streichhölzer, Stoff etc. zeigen. Fox jedoch arrangiert physikalische Experimente, die, teilweise im Close Up vorgeführt, von verblüffender Wirkung sind. So vermittelt die Nahaufnahme einer Tomate unter einem Metallschüsselchen, das nur von einem an einer Schnur geführten Streichholz gehalten wird, spätestens in dem Moment geradezu dramatische Qualitäten, als sich eine Fliege dazugesellt und die Schüssel herunterfällt. Auch der Balance-Akt eines Löffels auf einer Gabel wird zum Spannungselement, wenn zu den weiteren Requisiten ein Eiswürfel und ein Stofftuch zählen, das das schmilzende Eis peu-à-peu aus dem fragilen Gleichgewicht transportiert. Die in Realzeit gezeigten Phänomene beruhen auf physikalischen Gesetzmäßigkeiten und machen sich auf gleichermaßen unterhaltsame wie lehrreiche Weise Schwerkraft, Vakuumbildung, Kapillarwirkung und Zentrifugalkraft zunutze. Neben die elementaren Kräfte treten Feuer, Wasser und Luft als ephemere Hauptakteure – im faszinierenden Wechsel der Aggregatzustände, Tricks und Pointen verliert sich die Lust am verführerisch Immergleichen des Privatfernsehens. Statt dessen regen die Filme von Terry Fox zum aktiven Ausprobieren an, beflügeln die Phantasie zum anderen Umgang mit und zur anderen Sicht auf ganz alltägliche Dinge und Abläufe. Langsamkeit, Prozesshaftigkeit, Transformation – Terry Fox setzt der korrumpierenden Macht der Fernsehbilder ein dynamisches Antidot entgegen.

Anders als die Bannwirkung des Fernsehens besitzt das Labyrinth von Chartres eine positive Bildmagie für den Künstler. Sechs Jahre lang hat sich Fox intensiv mit dem Bodenmosaik der Kathedrale auseinandergesetzt und seinen Eindruck in verschiedenen Techniken manifestiert; es wurde ihm zum Bild des Lebens. Anläßlich der Vorbereitung seiner Ausstellung 1972 bei Ileana Sonnabend in Paris hatte er das außergewöhnliche Labyrinth aus weißen und blauen Steinen, das einen Durchmesser von knapp 13 Metern hat, erstmals gesehen „und es haute mich einfach um. Das war mir mit anderen Dingen auch schon passiert, aber diesmal…. Es erzeugte eine Korrespondenz mit dem, wie ich mein Leben bis dahin und mein Leben allgemein empfand.“16 Korrespondenzen zwischen der eigenen Existenz und der ästhetischen Erfahrung bildeten bereits das Leitmotiv seiner bisherigen Performance- und Video-Kunst; über die Beschäftigung mit dem Labyrinth in Chartres treten auch Objekte, Zeichnungen, Environments und Klang zum Spektrum der verwendeten Medien hinzu. Terry Fox ist über der teils wissenschaftlich-analytischen, teils bildlich-kreativen Erforschung der Hintergründe und Ziele dem Geheimnis der Wirkmächtigkeit des Mosaiks auf der Spur. Die 552 Schritte, 11 konzentrischen Kreise und 34 Wendungen, die der Künstler dabei analytisch verortet, werden zu Bestandteilen eines Bild-Ganzen, das weit mehr birgt, als die Summe seiner Teile. Fox schneidet die Form des Labyrinths aus einem Stück Karton und zieht es auseinander, um über die Andeutung von Dreidimensionalität die einzelnen Wendungen studieren zu können. Er gießt die Labyrinth-Form in Gips und erhofft sich über den Tastsinn weitere Erkenntnisse. Er läßt die 552 Schritte in einen Pflasterstein meißeln und über einer Wasserader in den Boden setzen. Tatsächlich fand der Künstler bei seinen umfangreichen Recherchen heraus, dass sich unter der Kathedrale in einer Tiefe von 37 Metern ein unterirdischer Fluss befindet und dass die Spitze des Bauwerks über dem Bodenmosaik ebenfalls exakt 37 Meter mißt. Terry Fox hat diesem extraordinären Standort des Labyrinths mit seinem Hocker-Objekt „A Metaphor“ (1976) einen bildlichen Ausdruck gegeben: die Abbildung des Labyrinths auf Karton befindet sich, an einer Schnur gehalten, genau auf der Horizontalachse „zwischen diesen zwei unglaublichen Kräften, dem fließenden Wasser und der atmosphärischen Kraft“.17 Das Abschreiten des Labyrinths führt zu einer rhythmischen spiralförmigen Bewegung im Raum, eine Bewegung „vor und zurück, bei der man glaubt, schon halb angekommen zu sein und dann in Schlangenlinien wieder zurückgeführt wird.“18 Nicht linear, sondern zyklisch und in steten Windungen verläuft der Weg vom Anfang bis zum Ende; er verändert die Erfahrung von Raum und Zeit. Vor dem Hintergrund der obsessiven Sezierung der Bildsprache des Labyrinths erfolgt die Erfahrbarmachung des Rätsels von Chartres nicht nur mit den Mitteln der Visualisierung, sondern auch in der Vertonung. So sind viele Klangarbeiten wie „552 Steps through 11 Pairs of Strings“ (Performance, San Francisco, 1976) und „The Labyrinth Scored for the Purrs of 11 Cats“ (Audio Tape, San Francisco, 1977) von der Wahrnehmung des verschlungenen Mosaiks inspiriert. Bei der Übersetzung der Bildsprache in Klang kommen so unterschiedliche Mittel zum Einsatz wie gespannte Klaviersaiten oder schnurrende Katzen, doch alle rekurrieren sie auf die spezifische Geometrie des Labyrinths, auf 552 Schritte, 11 Kreise und 34 Kehren. Bereits die Documenta-Arbeit „Action for a Tower Room“ (Kassel, 1972) steht im Kontext der synästhetischen Übersetzung der Bilderfahrung: Terry Fox spielte für die Dauer von drei Tagen jeweils 6 Stunden lang die monoton klingende Tambura und füllte das Turmzimmer auf diese Weise mit einem ununterbrochen „kreisförmigen Klang“.

Bilderrätsel, Klangskulpturen und Transformationsräume

„Das wirkliche Labyrinth ist, glaube ich, eine Art Instrument. Es ist auf dem Boden und wenn man es abläuft19, macht man dieses präzise Muster in der Luft, es wirkt, so stelle ich mir vor, wie ein Magnet. Man kann sich aufladen, in dem man es abläuft.“ Ein Instrument bringt etwas zum Klingen, macht zuständlich erfahrbar und ruft unmittelbare Empfindungen hervor – „erzeugt Elektrizität“20, wie Terry Fox formuliert. Das Energetische, das den Künstler am Mosaik von Chartres interessierte, wird zum Gegenstand seiner Kunst. Verdichtungen, Komprimierungen und Transformationen der sinnlichen Erfahrung in unterschiedlichsten Materialien und Modalitäten – die gleichermaßen meditative wie stimulierende Wirkung des rätselhaften Labyrinths wird zum Katalysator wie Gradmesser des eigenen Schaffens. Welche geheimen Gesetze liegen dem begrifflich nicht fassbaren Phänomen zugrunde?

Seit den 80er Jahren entstehen Arbeiten, die die Beziehung von Schrift und Bild systematisch ausloten. Die Serie der „Catch Phrases“ (1984) widmet sich der Interdependenz des Diskursiven und seiner sinnlichen Erscheinungsweise. Die 26 Objekte basieren auf den 26 Buchstaben des Alphabets und sind in drei Schichten aufgebaut. Den Bildgrund bildet eine Sammlung von propagandistischen Ausdrücken, die amerikanischen Radiosendern oder Zeitungen entnommen sind. Es handelt sich um Ausdrücke (z.B. „death squad“), die den schrecklichen Begriffsinhalt („Todeskommando“) durch verharmlosenden Gebrauch beschönigen und auf diese Weise in ihrer Wirkung gezielt abschwächen. Euphemismen beeinflussen auf latente Weise Emotion und Motivation. Auf der zweiten Bildebene über dem dünnen Text-Gitter tritt die Manipulation mit großen Zeichen und Graffitis, die Fox über einen Zeitraum von zwei Jahren in Italien gesammelt hat, noch deutlicher in Erscheinung. Die „Kommunikations-Fundstücke“ sind, wie Variationen von Hammer- und Sichelmotiv oder Hakenkreuz, leicht und häufig unterbewußt rezipierbare Signale. Die dritte Schicht besteht aus einer Nachbildung des Graffitos aus einem geschweißten Stahlstab. Die vormaligen Zeichnungen erhalten Objektcharakter und sind in ihrer Faktizität und buchstäblich handgreiflichen Wirklichkeit deutlich gekennzeichnet. Die „Schlagworte“ („Catch Phrases“) bilden somit eine Schichtung von Text und Bild, wie von Politik und Kunst. Im Vollzug der Betrachtung entwickeln sich die Zeichnungen nicht nur allmählich zur „Skulptur“, sondern führen auch die unterschiedlichen Wirksamkeiten von diskursiv-logischer und ästhetisch-sinnlicher Wahrnehmung vor Augen: während sich die Schrift nur allmählich entbirgt, besitzen die Bilder eine unvergleichlich größere Intensität. Ein Umstand, der in der Arbeit von Terry Fox kritisch und in seiner Bedeutung für Instrumentalisierungen hinterfragt wird. Sprache erscheint als Skulptur. Bereits in früheren Objekten, wie beispielsweise dem „Bird of Prey“ (1981), zielt Fox auf humorvoll-hintergründige Weise auf die reelle Wirklichkeit des Symbolisch-Zeichenhaften: sein „Raubvogel“ besteht aus Hammer, Sichel und zwei Dollarscheinen. In anderen Arbeiten treibt Fox sein Spiel mit Wörtern. Aus dem Echo von „a bottle air“ wird „Baudelaire“ („A Cloud Ladder“, Berlin, 2001) und auch Palindrome beflügeln eine andere Sicht auf die Dinge (aus „Time“ wird „Emit“).

Die wohl „universellste Sprache“21 ist der Klang. Wie die Sprachspiele, sensibilisieren Töne und Klänge für eine bewußtere Wahrnehmung der Umwelt. Fox, der sich seit 1971 im Rahmen von Klang-Performance oder Klanginstallation immer wieder mit den akustischen Eigenschaften alltäglicher Dinge auseinandersetzt, versteht sich dabei nicht als Musiker, sondern als Verstärker der den Gegenständen selbst innewohnenden Kraft. Durch Inbezugsetzung der Dinge untereinander entstehen Töne und Klänge, die technisch nicht weiter verändert werden. „Es wird der Klang von dem Gegenstand, an dem die Klaviersaite befestigt ist, erzeugt. Das ist der wichtigste Teil. Ich meine damit, eine Wand vibrieren lassen zu können, ein große Wand, sie einen Klang machen zu lassen – das ist wunderbar für mich. Das ist Skulptur. Oder nimm ein Auto, binde die Klaviersaite an ein Auto und lass das Auto klingen.“22 Eine Klaviersaite, eine Leiter, ein Brett, Wassertropfen, Glas – nichts ist akustisch bedeutungslos. Die Klänge, die Fox auf diese Weise hervorruft, machen das Unsichtbare des Gewöhnlichen und Vertrauten sinnlich erfahrbar. Die obertonreichen Materialklänge versetzen dabei leicht einen ganzen Raum in Schwingung. Die Vibrationen sind körperlich spürbar und lassen die in den Dingen verborgenen Energien erahnen. Der Raum wird zum Resonanzraum, zum Klangkörper und damit zum eigentlichen Instrument, das von den sich in ihm befindlichen Gegenständen gespielt wird. Verräumlichter Klang als skulpturales Gestaltungselement, das nicht nur im Verlaufe einer teils Tage, teils Stunden währenden Klang-Performance auch zu einer anderen Zeiterfahrung führt.

Zeit als Kontinuum und als Zyklus zwischen Werden und Vergehen – Terry Fox hat die Gleichzeitigkeit von Leben und Tod in dem Objekt „Envelope“ (1984/91) zum Gleichklang gebracht. Die rot gestrichene Wiege ist beschwert durch einen Eisenring, der die Leichtigkeit der Wiege-Bewegung verhindert. Das auf diese Weise festgesetzte „Behältnis“ ähnelt damit mehr einem Sarg als einem Kinderbett. Ein anderes Objekt dieser Werkreihe, „Ovum Anguinum“ (1990), reflektiert ebenfalls die Condition humaine. Das eiförmige Holzoval wird nur von einer an die Wand gelehnten Leiter gehalten. In seiner Mitte spannt sich ein Holzbalken mit der Aufschrift „odorless, tasteless, colorless, formless, silent“ und läßt sowohl an eine Zone der Leblosigkeit wie der Unendlichkeit denken. Ob die Leiter aus dem „Ei der Schlangen“ wie eine Himmelsleiter herausführt oder ob sie den Weg in eine Welt der Stille ermöglicht – wie bei allen Arbeiten von Terry Fox stehen beide Richtungen programmatisch offen.

Zu innerer Gelassenheit lud auch die Ausstellung „Ataraxia“ (1998) ein. Zu sehen waren u.a. die beiden „Vortex“-Objekte (1991/92) aus Metall. Auf dem Boden liegend die Nachbildung eines riesigen Brustkorbs, auf dessen „Rippen“ eine kontinuierliche Textzeile zu verschiedenen physischen Wahrnehmungen verläuft. An der Wand eine Art schematisierter Kopf mit seinen sieben Öffnungen (Augen, Ohren, Nasenlöcher, Mund), die im ständigen Austausch mit der Außenwelt stehen. Daneben der „Lauschende Fuchs“, ein skulpturales Selbstporträt, das den Künstler selbst in die vielschichtigen Querbezüge der „Ataraxia“ miteinbezieht.

„Body without head….“ bildet die Eingangspassage der Ausstellung „Bloodline“ (1996). Terry Fox zieht seine „Blutlinie“ als Textinstallation auf mehreren Tausend Buchstabenkarten, die auf der Wand, am Boden und unter Glasstürzen plaziert sind. Die vielen Reihen von fragmentierten Wörtern und kurzen Sentenzen scheinen sich im pausenlosen Stakkato im Raum fortzupflanzen – unentwegt neue Geschichten beginnend. Das Individuelle mischt sich mit dem Allgemeinen und man ist versucht, biographische Eckpunkte im steten Fluss der roten Buchstaben auszumachen. Doch die „Herkunft“ resp. „Blutzeile“ von Terry Fox verschwimmt in der Abfolge der unzusammenhängenden Sprachpartikel, die physische und psychische Wahrnehmungen konsequent mischen. Die Installation ist damit wesentlich textbasiert und dennoch von einer Bildwirkung, die das rein Diskursive übersteigt. Sie „ist im Grunde ein geistiger Raum, (…) die dem Betrachter ermöglicht, in die Erfahrung des Textes einzutreten.“23 Die roten Buchstaben werden zur Lebenslinie, die sich im Ausstellungsraum perpetuiert. Gespannte Stille, Raum als Skulptur.

Text, Zeit, Klang, Gegenstände, Zeichen und Raum sind im Schaffen von Terry Fox derart ineinander verflochten, dass sich Realraum und mentaler Raum verbinden, einen neuen Raum öffnen. Im Wechselspiel von kognitiver und sinnlicher Erfahrung werden Kräfte in Bewegung gesetzt, die fühlbar machen, was sich dem Verstehen entzieht. Der Betrachter wird durch seine psycho-physische Konstitution zum Dechiffrierer der Welt. Was ist eine Skulptur? Die Antwort muss etwas mit den unaufhörlichen Verflüchtigungen und Verfestigungen des Seins zu tun haben. Am Ende bleibt das Rätsel die zentrale Kategorie.

(Aus: „(RE/DE) CONSTRUCTIONS &c.“, Kunsthalle Fridericianum Kassel, 2003)

 


1 Terry Fox, in: Ich wollte, dass meine Stimmung ihr Aussehen beeinflusst. Interview von Willoughby Sharp, 1971, in: Terry Fox, Ocular Language, hrsg. v. Eva Schmidt, Gesellschaft für Aktuelle Kunst, Bremen 2000, S. 24.
2 Ders., a.a.O., S. 20.
3 Ders., a.a.O., S. 14.
4 Ders., a.a.O., S. 16.
5 Ders., a.a.O., S. 26.
6 Terry Fox im Gespräch mit der Autorin am 22.02.03.
7 Terry Fox, in: Vom Boden zur Decke und von Wand zu Wand. Interview mit Lothar Schröder, 1999, in: Ocular Language, S. 198.
8 Eva Schmidt, in: Ocular Language, S. iv.
9 Terry Fox im Gespräch mit der Autorin am 8.02.03.
10 Terry Fox im Gespräch mit der Autorin am 24.01.03.
11 Terry Fox, in: Ich wollte, dass meine Stimmung ihr Aussehen beeinflusst. Interview von Willoughby Sharp, 1971, in: Ocular Language, S. 10
12 Terry Fox, in: Vom Boden zur Decke und von Wand zu Wand. Interview mit Lothar Schröder, 1999, in: Ocular Language, S.202.
13 Terry Fox, in: Ich wollte, dass meine Stimmung ihr Aussehen beeinflusst. Interview von Willoughby Sharp, 1971, in: Ocular Language, S. 34.
14 Terry Fox, in: Es ist der Versuch einer neuen Kommunikation. Interview von Robin White, 1971, in: Ocular Language, S. 80.
15 Vgl. Bernd Schulz, in: terry fox, works with sound, hrsg. v. Bernd Schulz, Ausst.-Kat. Stadtgalerie Saarbrücken, Heidelberg 1999, S. 7.
16 Terry Fox, in: Die Grenzen erforschen. Interview von René van Peer, 1993, in: Ocular Language, S. 168.
17 Ders., a.a.O., S. 170.
18 Terry Fox im Gespräch mit der Autorin am 8.02.03.
19 Terry Fox, in: Es ist der Versuch einer neuen Kommunikation. Interview von Robin White, 1971, in: Ocular Language, S. 98.
20 Ders., ebd.
21 Terry Fox, in: Die Grenzen erforschen. Interview von René van Peer, 1993, in: Ocular Language, S. 176.
22 Ders., ebd.
23 Terry Fox, in: Vom Boden zur Decke und von Wand zu Wand. Interview mit Lothar Schröder, 1999, in: Ocular Language, S.200ff.